Die erste Meditation Descartes: Woran man zweifeln kann

 

Wir haben begonnen zu fragen, wie man Wissen erschaffen kann. Ein herkömmlicher Weg dafür ist der konstruierende. Die Erkenntnis wird in das Wissensrepertoire eingepflegt und ist dann abrufbar. Die Frage, wie gültig diese Erkenntnis dann im allgemeinen ist, bleibt offen. Die Einen sind damit befriedigt, wenn sie eine einleuchtende Erfahrung gemacht haben. Für die Meisten müssen diese Erkenntnisse reproduzierbar, also wissenschaftlich veri,- oder falsifizierbar sein, damit sie überhaupt von Wissen sprechen können. Aber dann gibt es auch jene, die noch skeptischer sind; man könnte auch von den Berufskeptikern reden, auch bekannt als Skeptizisten. Skeptizisten sind ein Volk für sich. Die radikalsten unter ihnen negieren die Möglichkeit von Wissen generell. Wobei sie sich mit dieser Position auch in eine problematische Situation manövrieren: Die Erkenntnis „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ ist ein Paradoxon. Aber lassen wir dies vorerst beiseite. Eine gewisse Skepsis ist nämlich sehr vital für die Wissenschaft, denn ohne sie würde gar kein Fortschritt existieren.

Einer der berühmtesten französischen Philosophen, der zur Zeit der frühen Neuzeit lebte, widmete ein ganzes Kapitel eines seiner wichtigsten Werke dem Zweifel. Ich spreche von René Descartes. In seinen „Meditationes de prima philosophia“ (Meditationen der ersten Philosophie) handelt das erste Kapitel von den Dingen die, seiner Ansicht nach, in Zweifel gezogen werden müssen. Er entwickelt eine Methode der Skepsis, die stufenweise alles Wissen demontieren soll, damit er von fälschlichen Überzeugungen befreit wird. Diese Methode soll in diesem Artikel kurz vorgestellt werden, da die vorgebrachte Argumentation durchaus nicht unumstritten ist, aber doch von einer unleugbaren geistigen Brillianz zeugt.

Bereits vor einigen Jahren habe ich bemerkt, wieviel Falsches
ich von Jugend an als wahr habe gelten lassen und wie zweifel-
haft alles ist, was ich später darauf aufgebaut habe, so daß einmal
im Leben alles von Grund auf umgeworfen und von den ersten
Fundamenten her erneut begonnen werden müsse, wenn ich
irgendwann einmal das Verlangen haben würde, etwas Festes
und Bleibendes in den Wissenschaften zu errichten, Indessen
schien mir das eine ungeheure Arbeit zu sein, und ich sehnte je-
nes Alter herbei, dem keines mehr folgen würde, das geeigneter
sein würde, um sich der wissenschaftlichen Forschung zuzu-
wenden. Aus diesem Grund zögerte ich dann so lange, daß ich
mir nunmehr zu große Verantwortung aufladen würde, wenn
ich die Zeit, die mir zum Ausführen dieser Arbeit noch übrig
bleibt, mit Bedenklichkeiten verplempern würde. Deshalb habe
ich heute die Gelegenheit ergriffen und den Geist von allen
Alltagspflichten freigemacht, habe alle Termine abgesagt,. ziehe
mich einsam zurück, und werde mich endlich ernsthaft und frei
diesem allgemeinen Umsturz meiner Meinungen widme.

Dafür wird es indessen nicht notwendig sein, zu zeigen, daß
meine Meinungen allesamt falsch sind, denn das könnte ich
wohl auch niemals erreichen; sondern weil schon allein die
Vernunft dazu rät,  daß dem nicht völlig Sicheren und Unzwei-
felhaften die Zustimmung nicht weniger gründlich entzogen
werden muß als dem offenbar Falschen, wird es schon ausrei-
chen, alles zurückzuweisen, worin ich auch nur irgendeinen
Grund zum Zweifeln antreffe“
Seite 33, 17,2 ff*

Es fängt also damit an, dass alles was im Leben gelernt wurde, über den Haufen geworfen werden müsse, damit man „vom ersten Fundament“ an neu aufgebaut werden kann. Ihm scheint auch bewusst zu sein, dass es sich um eine langwierige und anstrengende Arbeit handeln wird, die er am liebsten in einem etwas gesetzteren Alter vollzöge, vielleicht um nicht die Jugendjahre damit zu verbringen, sich über der Anstrengung graue Haare wachsen zu lassen. Jedoch würde es auch Zeit werden, damit zu beginnen, denn es handele sich um eine derart große Aufgabe, dass eine gewisse Lebensspanne dafür eingerechnet werden müsse, und keine Zeit mehr „verplempert“ werden sollte. Als dieser Zeitpunkt gekommen zu sein schien, zog er sich in die Einsamkeit zurück, um seine volle Konzentration auf jenes Unterfangen richten zu können. Man sieht also, dass er sein Vorhaben keineswegs auf die leichte Schulter zu nehmen scheint. Er sucht die Ruhe der Abgeschiedenheit, um sich voll auf das Thema konzentrieren zu können. Seine Methode sieht vor, dass nicht nur dem offensichtlich Falschen die Zustimmung entzogen werden muss, sondern auch was nicht hundertprozentig sicher ist, sollte vorerst lieber in Frage gestellt werden, als für wahr angenommen zu werden.

Zunächst stützt sich seine Argumentation auf die Erfahrung der Sinne. Diese ist von zweifelhafter Natur, da die Wahrnehmung durch Sinne potentiell von Fehlwahrnehmungen durchzogen sein kann. Als ein Beispiel wäre hier die Lichtbrechung zu nennen, die dafür verantwortlich ist, dass wenn ein Stab ins Wasser gehalten wird, er durch das Wasser hindurch gebrochen aussieht. Hierbei handelt es sich natürlich um eine optische Täuschung. Descartes schreibt bezugnehmend:

Nun habe ich alles, was ich bislang als ganz wahr habe gel-
ten lassen, entweder von den Sinnen oder vermittelt durch die
Sinne erhalten, Aber ich habe entdeckt, daß die Sinne zuweilen
täuschen, und Klugheit verlangt, sich niemals blind auf jene zu
verlassen, die uns auch nur einmal betrogen haben, Seite 35, 18,15 ff*

Im Folgenden stellt er zwar fest, dass es Wahrnehmungen gibt, die erst einmal nicht zu bezweifeln sind, wie zum Beispiel die Wärme, die ein Lagerfeuer abstrahlt, oder das raue Gefühl, das Papier auf den Händen hinterlässt. Eben diese Hände und der Körper, zu dem sie gehören, scheinen doch irgendwie vorhanden sein. Welche Begründung könnte man anführen zu bestreiten, dass dieser Körper nicht zu dem Geist gehört, der ihn wahrnimmt? Descartes fällt dazu nur der Fieberwahn und die Geisteskrankheit ein. Jemand der sich im Fieberwahn befindet, mag denken edel gekleidet zu sein, obwohl er in Wirklichkeit nichts trägt. Auch sich als Obdachloser für einen König zu halten ordnet Descartes dem Bereich der Geisteskrankheit zu. Hier wird man als Leser jetzt innehalten und unterscheiden wollen; sind Geisteskranke nicht ein „besonderer Fall“? Kann man das als Argument gelten lassen? Impliziert Krankheit nicht schon, dass etwas nicht in Ordnung ist? Das hängt wohl ganz vom Weltbild des Lesers ab. Descartes erkennt aber Parallelen zu der Geisteskrankheit in seiner eigenen Wahrnehmung;  führt an dieser Stelle jedoch sein Traumargument an. Erlebt er nicht auch so abenteuerliche Dinge wie sie manch einer von sich gibt, der als Geisteskrank eingestuft wird? Im Unterschied zwar, dass er weiß dass er träumt. Dennoch: Im Traum erlebt er Situationen die zum Teil täuschend echt wirken und trotzdem liegt er eigentlich im Bett und schläft. Wie kann man denn den Traum vom realen Erleben unterscheiden? Am Schreibtisch zu sitzen und sich durch den Bart zu streichen kann im Traum vorkommen, kann aber auch im Wachzustand geschehen. Wie kann man hier eine sichere Trennung vornehmen? Descartes sagt:

Wenn ich aufmerksamer daran denke, sehe ich so unverhoh-
len, daß der Wachzustand niemals aufgrund sicherer
Anzeichen vom Traum unterschieden werden kann, daß ich erstaune; und
dieses Erstaunen bestärkt mich fast sogar noch in meiner Mei-
nung, zu träumen“ Seite 37, 19,18 ff*

Träume scheinen doch aber irgendwie etwas von der Realität des Wachzustandes zu haben, denn die Hände und Körper beispielsweise ähneln einander sehr. Daher scheint die Wahrnehmung basierend auf Fakten zu sein, die dann auf die eine oder andere Art und Weise zusammengesetzt werden. Und bei dieser Zusammensetzung kommen Fehler zustande.
So auch bei den empirischen Erfahrungswissenschaften. Da sie auf Sinnen beruhen, von verschiedenen Erfahrungen zusammengesetzt werden, und sogar nicht endgültig als das bewiesen werden können,  was sie scheinen, muss man ihnen zunächst misstrauen.

Wie sieht es nun mit der Vernunft aus? Mit der „inneren Einsicht“ die der Mensch besitzt? Enthalten nicht Vernunftgegenstände und Modelle immer etwas unzweifelbares, wahres? Geometrie und Arithmetik sind direkt einsehbar und auch nicht widerlegbar: zwei plus drei ergibt fünf, ein Quadrat muss per Definition vier Seiten haben! Dies ist im Wachzustand und im Traum immer der Fall!

Er fährt jedoch fort und stellt fest: So wie ihn seine Sinne betrogen haben und es zum Teil einiges an Geschick erfordert, dies zu erkennen, so ist es vielleicht auch hier der Fall, einer Täuschung zu unterliegen. Hier bringt Descartes Gott in die Argumentation mit ein und definiert ihn als einen gütigen. Und was ist wenn er sich stetig täuschen sollte? Ist Gott dann gar nicht gütig? Und eben das Erleben von Täuschung scheint generell von einem gewissen Mangel an Perfektion zu zeugen. Dies benutzen manche Leute ihm zu widersprechen, und an Gott zu zweifeln. Er gibt zu, dass er dieses Argument nicht widerlegen kann, da es sich um eine Art Status Quo Situation handelt. Stattdessen unterstreicht er die Notwendigkeit, eine Methode zu erarbeiten, eben sicheres Wissen zu erlangen. Daher muss er auch jene Dinge in Frage stellen, die er selbst für das Wahrste und Sicherste in seinem Leben gehalten hat. Deshalb gilt in erster Linie:

Wenn ich irgendetwas Sicheres herausfinden will, muß ich des-
halb vorsichtshalber bis auf weiteres auch diesem nicht weniger
als dem offenbar Falschen die Zustimmung entziehen“ Seite 41, 21,33 ff*

Deshalb wird er Kraft seines Willens alles negieren, was er gerechtfertigt und ungerechtfertigt für wahr hält, um alles mit dem stärksten Zweifel auf seine Beständigkeit zu prüfen und nur jenes als wahr und richtig beibehalten, was nicht im geringsten anfällig für Zweifel ist. Dies gilt jedoch nur für den erkenntnistheoretischen Bereich, und nicht für das praktische Handeln. Das stellt er nochmals fest, um klar zu stellen, dass er keine Gefahr für seine Person eingehen wird.
Aber er wird seine Methode des Zweifels so sehr vertiefen, dass er davon ausgehen wird, dass nicht er, ein Mensch aus Fleisch und Blut, diese Bestrebung auf sich nehmen wird, sondern nur „etwas ist“ das wahrnimmt, und sich Hände, Füße und alles weitere nur einbilde.
Er wird in einen Zustand der Meditation eintreten, in dem er alles für irreal, falsch und trügerisch einstufen wird, was auch nur anfällig für den kleinsten Funken Zweifel ist. Da er von einem gütigen Gott überzeugt ist, wird auch diese Vorstellung ins negative verkehren und stattdessen von einem „dämonischen Täuscher“ ausgehen, der mit perfider Klugheit ihn zu Täuschen vermag. Sicherlich kein Unterfangen, was einem sonntägigen Spaziergang gleicht. Dessen wird er sich auch selbst bewusst und schreibt dazu folgendes:

aber dieses Vorhaben ist beschwerlich, und
eine gewisse Trägheit zieht mich in das Alltagsleben
zurück. Ich bin wie ein Gefangener der im Traum eine Freiheit
lebt, die freilich bloß vorgestellt ist, und der, wenn er‘ später
den Verdacht zu hegen beginnt, daß er schläft, der schmeich-
lerischen Illusionen wegen die Augen geschlossen hält; ebenso
kehre ich von selbst wieder zu den alten Meinungen zurück,
und scheue mich, aufgeweckt zu werden, damit nicht auf eine
solche behagliche Ruhe ein beschwerlicher Wachzustand folge,
der bis auf weiteres alles andere als im Licht, sondern inmitten
der unentwirrbaren Schatten der aufgerührten Schwierigkeiten
zugebracht werden muß.“ Seite 44 ff, 22,38 ff *

Das muss in der Tat sehr belastend sein. Man gerät in einen Strudel aus Bedeutungslosigkeit und gähnender Leere. Wenn die Methode es vorsieht, noch das letzte Stück heimelige Gemütlichkeit aufzugeben, der Boden unter den Füßen zu wanken scheint, man gar nichts mehr glauben möchte und zuguterletzt sich auch noch einem bösartigem Dämon gegenübersieht, der es versteht einen intelligent zu täuschen – dann muss man es schon wollen.

Aber der Philosophie hat René Descartes damit einen großen Dienst erwiesen, ganz gleich wie viel man nun im einzelnen von seinen Thesen hält. Generell die sinnliche Wahrnehmung kritisch zu betrachten scheint vernünftig zu sein, und auch sein „Traumargument“ kann als geschichtlicher Vorgänger der modernen „Gehirn im Tank Theorie“ ( auch als Matrix-Theorie bekannt) gelten. Sein Vorgehen beim Argumentieren ist sehr analytisch und strukturiert was ein gutes Folgen ermöglicht. Kritisierend muss man jedoch feststellen, dass er manche Ansichten voraussetzt, die er nicht beweisen kann. Generell hat er die Philosophie sehr bereichert und kann zurecht auch als brillianter Universalgelehrter seiner Zeit gelten.

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*Entnommen aus: Descartes, René: Meditationes de prima philosophia, in qua Dei existentia et animae immortalitas demonstratur (1641); übersetzt und herausgegeben von Christian Wohlers, Felix Meiner Verlag Hamburg (2008)

 

 

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