Im Artikel Von Zwangsgewalt und Bestrafung stellten wir fest, dass Hobbes kein gutes Haar an der Menschheit lässt. Jeder ist sich selbst der Nächste und nimmt sich, was er kriegen kann. Dies ist der Naturzustand nach Hobbes, der Mensch ist selbst des Menschen Wolf. Erst mit dem Abschluss eines Vertrages eines jeden mit jedem, eines Gesellschaftsvertrages, bei dessen Unterzeichnung ein Teil der eigenen Freiheit auf einen Souverän übertragen wird, kann Frieden entstehen. Denn dieser wird mit fester Hand und unter Androhung von Strafe dafür Sorge tragen, dass sich die Menschen benehmen. Erst hierdurch kann Eigentum entstehen und die menschliche Gesellschaft sich entwickeln.
Zeitsprung: 30 Jahre nach Thomas Hobbes Tod wird ein anderer Philosoph und Gesellschaftstheoretiker geboren: Jean-Jaques Rousseau. Stellen wir uns nun einmal vor, wir bekämen eine Gelegenheit uns mit ihm auf einen Tee in einem gemütlichen Salon zu treffen und ihn zu Hobbes Position zu befragen.
„Lieber Monsieur Rousseau, ist der Mensch wirklich von Natur aus so ein übler Geselle?“
würden wir wohl fragen. Und Rousseau würde, vielleicht aus einem gemütlichen Ohrensessel heraus, antworten:
„Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein , und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: >Hütet euch, auf diesen Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen gehören und die Erde niemandem< *(1)
Was für eine starke Aussage! Also können wir festhalten, dass der Mensch erst böse wird, wenn es um Eigentum geht?
Rousseau führte wohl weiter aus:
„Das erste Gefühl des Menschen war das seiner Existenz, seine erste Sorge die um seine Erhaltung. Die Erzeugnisse der Erde lieferten ihm alle notwendige Unterstützung, der Instinkt trieb ihn an, von ihnen Gebrauch zu machen. (…) Dies war der Zustand des entstehenden Menschen; dies war das Leben eines Tieres, das zunächst auf die reinen Sinnesempfindungen beschränkt war und sich kaum die Gabe zunutze machte, die ihm die Natur anbot, weit davon entfernt, daran zu denken, ihr etwas abzuringen“ (2)
aber:
„bald traten Schwierigkeiten auf; es war notwendig zu überwinden zu lernen: Die Höhe der Bäume, die ihn daran hinderte, ihre Früchte zu erreichen; die Konkurrenz der Tiere, die sich von ihren Früchten zu ernähren suchten; die Grimmigkeit jener Tiere die an sein Leben wollten – alles zwang ihn, sich die Übungen des Körpers angelegen sein zu lassen; es war notwendig, flink, schnell im Lauf, kräftig im Kampf zu werden. Die natürlichen Waffen – die Äste von den Bäumen und die Steine – waren ihm bald zur Hand. Er lernte die Hindernisse der Natur zu überwinden , mit den anderen Tieren wenn nötig zu kämpfen, selbst mit den Menschen um seinen Lebensunterhalt zu streiten“ (3)
Der Instinkt hat das Menschengeschlecht also dazu veranlasst seinen Verstand zu benutzen. Das ergibt Sinn. Hätten unsere Vorfahren dies nicht getan, so hätte ich diesen Artikel nicht geschrieben und du ihn nicht gelesen. Das heißt wir wurden durch unsere äußeren Umstände dazu gebracht, den Naturzustand zu verlassen. Doch wir sind nicht die einzigen. Denn selbst die Eingeborenen die Rousseaus Zeitgenossen in Amerika, den Pazifikinseln und allen anderen Teilen der Welt gefunden haben, haben diesen bereits verlassen. Er schreibt folgendes, bemerkenswertes, dazu:
„Weil man nicht bemerkt hat, wie weit diese Völker schon von diesem ersten Naturzustand entfernt waren, haben sich manche beeilt zu schließen, daß der Mensch von Natur aus grausam sei und daß er Zivilisation bedürfe, damit diese ihn sanfter mache. Indessen ist nichts so sanft wie der Mensch in seinem anfänglichen Zustand, wo er – von Natur aus in gleicher Entfernung zur Stupidität des Viehs wie zur unheilvollen Einsicht und Aufgeklärtheit des bürgerlichen Menschen plaziert und durch den Instinkt und die Vernunft gleichermaßen darauf beschränkt, sich vor Schaden zu schützen, der ihm droht – durch das natürliche Mitleid zurückgehalten wird, selbst jemandem Schaden zuzufügen – wozu er durch nichts veranlaßt wird, selbst dann nicht, wenn er Schaden erlitten hat. Denn nach dem Axiom des weisen (John) Locke kann es kein Unrecht geben, wo es kein Eigentum gibt.“ (4)
So hat es seit langer Zeit keinen Menschen mehr auf diesem Planeten gegeben, der in dem ursprünglichen Naturzustand lebt, den Rousseau für so natürlich hält:
Ohne Gier fehlt dem Menschen die Raffinesse, die ihn dazu veranlasst seinen Verstand als ein solch gefährliches Werkzeug zu verwenden, wie wir es immer wieder tun und taten. Anstatt ein Betrüger zu sein, der einen Betrug fürchtet, lebt der Mensch geleitet von seinen innersten Qualitäten: Von Mitgefühl und – es heißt ja nicht zumsonst – Menschlichkeit.
Rousseau sah aber selber ein, dass wir uns von diesem utopischen Zustand der Harmonie bereits zu weit entfernt haben, anstatt das wir uns einfach umdrehen könnten und zurück in einen unreflektierten Zustand der Harmonie treten könnten.
Tja, das Licht des Verstandes ist eben zu verlockend! Und wir haben ja auch schon festgestellt, dass wir ohne diese Entwicklung auch niemals zu einem Gegenstand wie diesem Blogartikel gekommen wären!
Und nicht zuletzt hat uns unsere Umwelt zu dem gemacht, was wir sind: Durch den von Rousseau beschriebenen Konkurrenzkampf in der Natur mussten wir uns die Fähigkeit aneignen, zu dominieren. Nur dadurch sind wir an dem Punkt angekommen, an dem wir uns heute befinden. Doch legt uns das eine Gewisse Verantwortung auf: Unsere moderne Gesellschaft hat uns einen Wohlstand und eine Freiheit beschert, die vor einhundert Jahren so noch nicht denkbar gewesen wären. Dies eröffnet uns die Möglichkeit uns wieder unseren inneren Qualitäten zuzuwenden: Das Mitgefühl und die Harmonie. Und die können wir dann zum Ausdruck bringen wenn wir das zügeln, was Konflikte beschwört: Die Gier.
Mir liegt die Weltansicht Rousseaus weitaus näher als die von Hobbes. Wenn der Mensch nicht drangsaliert wird, er sich in keinem Zwang befindet aus dem heraus ihm Not entsteht, dann ist der Mensch nicht von Natur aus böse. Also ist mein Plädoyer: Wir müssen vom Sozialdarwinismus weg kommen und erkennen, dass eine Gesellschaft immer nur so stark ist, wie ihr schwächstes Glied.
Es bleibt natürlich jedem selber überlassen wie er die Dinge sieht. Ihr seid wie immer herzlich eingeladen eure Kritiken, Meinungen und Gedanken hier zu verewigen – in den Kommentaren.
Ich verbleibe wie immer mit den besten Wünschen und freue mich, dich bald wieder auf der Aurora Philosophia begrüßen zu können!
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*Entnommen aus: Horn, Scarano (Hrsg); Rousseau (Autor): Philosophie der Gerechtigkeit, Suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Frankfurt am Main, 2002
(1) S. 219, Zeilen 1-9
(2) S. 219, Zeilen 22-25, S 219, Zeile 32 ff.
(3) S. 220, Zeilen 2-11
(4) S. 220, Zeilen 15 – 29